Der 22. Juni 2022 wird wohl ein Tag bleiben, den die Schülerinnen und Schüler der 10. Klassen so schnell nicht vergessen werden. Wir begrüßten Frau Elke Schlegel, eine Zeitzeugin, die mit ihrer Lebensgeschichte den SchülerInnen das grausame Vorgehen der SED zur Zeit der DDR nahebrachte. Die 64-jährige wurde 1958 in Jena geboren und fiel in der Schulzeit schon durch ihren Widerstand gegen den Sozialismus mit nur stark eingeschränkten Grundrechten auf. Auch als Erwachsene konnten sie und auch ihr damaliger Lebensgefährte sich nicht mit dem Unrechtssystem der DDR anfreunden und stellten somit Anfang der 80er Jahre mehrere Ausreiseanträge, die ihnen die Tür zur Bundesrepublik geöffnet hätten. Als es dann zur Genehmigung eines Antrags kam, stürmten am Tag vor der Abreise SED-Mitglieder die Wohnung der beiden, nahmen sowohl Frau Schlegel als auch ihren Freund fest. Zu diesem Zeitpunkt konnte Frau Schlegel noch nicht ganz mutmaßen, welcher Horror ihr bevorstand: „Man verhörte mich 13 Stunden lang und forderte mich dazu auf, etwas zuzugeben, wofür ich mich nicht schuldig fühlte“, so Frau Schlegel während sie den SchülerInnen über ihre dreimonatige Übergangshaft berichtete. Doch bei diesen drei Monaten Haft blieb es nicht. Es kam zum Prozess, bei dem das Gericht sie zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilte. Man warf ihr vor, gegen das Wohlergehen des Staates gehandelt zu haben, weil man Telefongespräche, die sie mit Leuten aus dem Westen geführt hatte, nachweisen konnte. „Mein Lebensgefährte, so Frau Schlegel, wurde nur zu einem Jahr und fünf Monaten verurteilt, weil er neben dem Telefon stand.“
Anschließend wurden sie und ihr Freud „wie Schwerverbrecher“ abgeführt und in getrennte Transportwagen verfrachtet. Für Frau Schlegel ging es nach Hoheneck in die Frauenzuchtanstalt. Dort wurde sie mit der Realität des DDR-Regimes konfrontiert, denn sie erfuhr, dass hier die ganzen Schwerverbrecherinnen der DDR einsaßen, die es laut der SED „nur im Westen gäbe“. Die Zustände in diesem Lager waren katastrophal. Man wurde von den Aufseherinnen geschlagen, das Gefängnis war zum damaligen Zeitpunkt mehr als überfüllt. Und zwischen all den Schwerverbrecherinnen saß Frau Schlegel, die unter diesen Bedingungen fünfeinhalb Monate ums Überleben kämpfte, an Schlafstörungen litt und Essen aus Rohstoffen serviert bekam, die mit „nicht für den menschlichen Verzehr geeignet“ beschriftet waren. Frau Schlegel kam es jedoch später zugute, dass sie nur noch 37,5 kg wog, denn somit verkürzte sich ihr Haftaufenthalt, da sie nicht warten musste bis die BRD das Befreiungsgeld für sie bezahlt hatte. „Die DDR hätte von der Bundesrepublik 80.000 Mark für meine Freilassung verlangt“, so die 64-Jährige. Wegen ihres Untergewichts entkam sie also Hoheneck und wurde zu einer Art „Aufpäppelungsstation“ nach Ost-Berlin gebracht, wo die Umstände menschenwürdiger waren als in Hoheneck. Nachdem sie dort einige Wochen zugebracht hatte, ging die Ausreise aus der DDR endlich in Erfüllung. „Beim Überqueren der Grenze wurde ich gefragt, ob ich die DDR wirklich willentlich verlassen möchte“, erzählte Frau Schlegel. Antwort auf diese Frage dürfte jedem nun klar sein. Die damals junge Frau wurde dann zu ihren Verwandten im Westen nach Rheinland-Pfalz gebracht. Ihr Lebensgefährte und heutiger Ehemann folgte ebenfalls einige Monate später. Ihren kleinen Sohn, den sie bei ihrer Verhaftung bei ihrer Mutter im Osten lassen musste, holte sie später nach.
Als dann 1989 die Mauer fiel war das „für uns ein gleichzeitig schöner, aber auch trauriger Moment“, sagte Frau Schlegel. „Auf der einen Seite freute man sich, dass das Unrechtssystem der DDR gefallen war, aber auf der anderen Seite machten wir uns auch Gedanken darüber, welche Position die Leiter und Vorantreiber der DDR in der der neu entstehenden Gesellschaft übernehmen würden, denn die Mauer stand nicht nur den Guten offen.“
Frau Schlegel lernte, mit ihren grausamen Erfahrungen umzugehen. Vergessen wird sie diese Erlebnisse zwar nie, aber das ist ja auch gut so, denn die Erinnerungen und Geschichten an diese Zeit dürfen niemals in Vergessenheit geraten. Geschichte ist das, was uns prägt und belehrt und nicht bestraft. Es ist zudem wichtig, dass es Zeitzeugen wie Frau Schlegel gibt, die den Mut und die Zuversicht haben, jungen Leuten, die in Demokratie und Freiheit aufwachsen vor Augen zu führen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist, aber vielmehr noch, dass Geschichte eben nicht nur im Schulbuch existiert, sondern „lebt“.
Wir danken Frau Schlegel, dass sie sich die Zeit genommen hat, uns mit ihrer Geschichte eindringlich über die Missstände in der DDR aufzuklären. Wir hoffen auf ein baldiges Wiedersehen im nächsten Jahr, damit auch die nachfolgenden SchülerInnen die Chance auf diese intensiven und spannenden 90 Minuten haben können. Ein ganz großes Dankeschön widmen wir als Schulgemeinschaft natürlich auch Frau Dohle und Herrn Sackenheim, die das Projekt begleitet und organisiert haben.
Susanne Sobol, 10. Klasse